Über Karl Rühmann liest und hört man seit Kurzem häufig. Er wurde in Jugoslawien geboren und wuchs im Zeitalter des Totalitarismus auf, den er als Kind, das nicht im Einklang mit dem Umfeld stand, am eigenen Leib spürte. Seine Erfahrungen und seine damalige Vision beschrieb er in seinem ersten Roman «Glasmurmeln, ziegelrot», der auch als «Pikule ciglene boje» ins Kroatische übersetzt wurde. Er betont, dass es ein Roman, also ein fiktiver Text ist, in dem er nicht objektive Wahrheiten über die Zeit, in der die Handlung stattfindet, sucht. Aber die Tatsache, dass er die Zeit, über die er schreibt, persönlich miterlebt hat, verleiht dem Buch einen besonderen Realismus.

Sein zweiter Roman «Der Held», kroatisch «Heroj», erschien Anfang Juni 2020. Das Buch handelt von zwei hochrangigen Offizieren, die einst in derselben Armee dienten, sich dann aber im Krieg auf gegnerischen Seiten befanden. Das Gericht in Den Haag sprach den einen frei, der andere wurde verurteilt. Auf den ersten Blick denkt man, der erste sei der Held und der zweite ein Verbrecher. Die Dinge sind aber natürlich nicht so schwarz-weiss. Für diesen Roman wurde Karl Rühmann im vergangenen Jahr für den Schweizer Buchpreis nominiert.

Für unsere Gespräche trafen wir uns mehrmals in Zürich und unterhielten uns auf Kroatisch.

Wie fühlt es sich an, für solch einen prestigeträchtigen Schweizer Preis nominiert zu sein?

Das Gefühl ist in jeder Hinsicht wunderschön, nach der Nominierung folgen Lob, Lesungen und Auftritte. Ich muss aber sagen, dass ich grössere Auszeichnungen für das Buch «Glasmurmeln, ziegelrot» erwartet hatte, weil es origineller ist. Beim Zweiten dachte ich nicht mehr an eine Nominierung. Schreiben ist ein einsamer Job, man ist voller Zweifel, ob es irgendwo hinführt und ob es funktionieren wird. Die Auszeichnung bestätigt mir aber, dass ich die Arbeit richtig gemacht habe. Es ist mir wichtig, dass Sie in einer meiner Geschichten Ihre eigene darin lesen können, und dass ich meine Erfahrungen teilen kann. Derjenige, der das Buch für den Preis vorgeschlagen hat, beweist, dass auch er im Buch etwas für sich gefunden hat.

Sie wuchsen in Kroatien auf. Was brachte Sie in die Schweiz?

Ich wuchs zweisprachig auf. Im Alter von 16 Jahren ging ich nach Amerika. Nach der Rückkehr entschied ich mich für ein Studium in Zagreb und arbeitete nachts, um mir das Studium zu finanzieren. Zu dieser Zeit traf ich meine Frau, eine Schweizerin, die in Zagreb Slawistik studierte. Zufälligerweise verbrachte ich sechs Jahre in der Jugoslawischen Volksarmee (JNA) und durfte auch danach nicht ins Ausland reisen. 1989, also noch vor dem Krieg, war unser erstes Kind unterwegs, und wir flogen in die Schweiz. Ich gab eine hervorragende Stelle an der Universität auf, um auf einer Baustelle zu arbeiten und Sprachunterricht zu geben… Später verfasste ich Kinderbücher, alle anderthalb Jahre ein neues, und an einer Schule unterrichtete ich Schreibcoaching. Jetzt schreibe ich nicht mehr für Kinder, denn es wurde schwierig für mich, für ein Publikum zu schreiben, zu dem ich nicht mehr gehöre.

Ich war lange Zeit Soldat, da lernte ich, wie diejenigen mit Rangabzeichen auf den Achselpatten denken. Ich glaube, dass ich wegen des Kriegs nach all den Jahren keinen Frieden finden konnte. Ich fragte mich, warum es passiert ist. Es lässt sich zwar alles rational erklären. Aber – wie ist es möglich, dass mein Freund aus dem Gymnasium das Dorf meiner Eltern beschiessen kann? Die einzige Möglichkeit, dies zu verarbeiten, war für mich, darüber einen Roman zu schreiben. «Der Held» hat indirekte autobiografische Elemente. Ich will damit nicht zeigen, wer Recht hatte – das muss der Leser selbst beurteilen. Jeder der drei Charaktere hat von seinem Standpunkt aus gesehen Recht, und jeder Krieg ist in dieser Hinsicht privat. Ich hörte mir den Prozess aus Den Haag an und achtete besonders auf die Aussagen gewöhnlicher Menschen, die in meinem Roman durch Ana vertreten sind. «Der Held» ist mein Versuch, die Themen Schuld und Verantwortung zu verarbeiten; ich habe aber nicht das Ziel, die Einen zu verherrlichen und die Anderen anzuprangern.

Möglicherweise werden einige Ihrer Behauptungen im Buch «Der Held» den Kroaten nicht gefallen – wie zum Beispiel, dass die Kroaten den Krieg nicht hätten gewinnen, sondern verhindern sollen. Oder die Frage, ob es naiv war, zu glauben, dass der neue Staat besser werden könnte als vorher. Vor allem aber die Gedanken über Verantwortung und Schuld und das Relativieren des Heldentums.

Ja, das alles sind Teile der Diskussion über das Verhältnis zwischen Politik und Militär. Die Politiker schufen die Grundlage für den Krieg, auf der dann die Offiziere lediglich ihre Arbeit erledigten. Politiker liessen zu, dass das System den Krieg unvermeidlich machte. Ein General weiss zwar, dass er die Brücke sprengen muss. Das gehört zu seinem Job. Er fühlt sich aber schuldig, dass er sich in eine Situation bringen liess, in der er dazu verpflichtet war, die Brücke abzureissen.

Natürlich mussten sich die Kroaten verteidigen, weil die JNA auf der Seite der Serben stand. Die Generäle waren aber über die Politik empört, weil sie das Land zu einem völlig unnötigen Krieg zwangen; sie fragten sich, warum dies zugelassen wurde, und ob der Krieg nicht durch ein rechtzeitiges Eingreifen hätte verhindert werden können. Als er dann tatsächlich ausbrach, wurde die Schuld, statt den Politikern, den Generälen und der Armee gegeben, obwohl zu diesem Zeitpunkt gar kein anderes Handeln mehr möglich gewesen wäre.

Andererseits sprechen Sie der kroatischen Rechtsstaatlichkeit ihre Anerkennung dafür aus, richtig reagiert zu haben…

Ja, aber auch in solchen Fällen steht die Rechtsstaatlichkeit normalerweise unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft.

Der General war neugierig auf Ana; vielleicht wollte er sie in der Nähe und «unter Kontrolle» haben. Er unterschätzte jedoch ihre Hartnäckigkeit auf der Suche nach der Wahrheit. Diese Wahrheit war ihr wichtig, weil ihr Sohn bereits begonnen hatte, nach seinem Vater zu fragen, und weil sie ihm diese Wahrheit schuldig war.

Beim Schreiben des Buches erwies es sich als nützlich, dass die in Den Haag Inhaftierten das Internet nicht benutzen durften. Deshalb mussten die Generäle per Brief kommunizieren. Das bedeutet, dass sie Zeit hatten, die Dinge in Ruhe zu durchdenken, um nicht nur Behauptungen aufzustellen, sondern dies auch mit Argumenten zu erhärten. Dadurch erhält der Leser Material, mit dessen Hilfe er sich sein eigenes Urteil darüber bilden kann, wer Recht hat.

Solch komplexe Ereignisse sind schwierig zu beurteilen und zu bewerten. Eine Figur im Roman fragt, wo der Kaffeesatz sei, aus dem man die Vergangenheit lesen könnte.

Ja, und dieser Satz ist programmatisch dafür, was auch heute noch auf dem Balkan geschieht.

Werden Sie weiterhin schreiben?

Ja, mein nächstes Buch wird «Dolmetscher» heissen, «Tumač». Ich werde versuchen, damit verschiedene Welten zu verbinden, indem ich interpretiere, was andere sagen. Für das Buch erhielt ich Unterstützung von der Stadt Zürich. Diese Unterstützung ist mir wichtig, denn sie zeigt mir erstens, dass jemand daran glaubt, dass das Buch funktionieren kann, und zweitens, weil ich dadurch finanziell unabhängig bin. Zudem wird es sicherlich auch in diesem Buch autobiografische Elemente geben.

Quelle: Libra 49

Interview geführt von: Vesna Polić Foglar

Übersetzung ins Deutsche: Ines Puzić

Bildlegende: Karl Rühmann: «Die Nominierung für den Preis zeigt mir, dass ich meine Arbeit richtig gemacht habe».

Foto: Vesna Polić Foglar