Bei genauerer Betrachtung der politischen Landschaft in der Schweiz sind junge Frauen eher die Ausnahme. Wie kamst du zur Politik? Wie sieht dein politischer Werdegang aus?

Wir sind eine politische Familie, das ist auf jeden Fall mein Privileg. Wir haben unsere Meinung zu politischen Themen immer schon am Esstisch ausgetauscht. Das allererste Thema, das mich sehr berührte, war der Irakkrieg. Während meiner Zeit in der Kantonsschule geriet ich in einen Freundeskreis, in dem sich alle intensiv mit Politik beschäftigten, alle waren für die Juso (JUngSOzialist*innen) engagiert. Da merkte ich, dass ich selbst auch politisch links stehe. Ab und zu ging ich zu Demos – und dachte, dass das genügt. Dann kam aber die Masseneinwanderungsinitiative der SVP, und da wurde mir klar, dass ich etwas mehr tun musste.

Hattest du jemals das Gefühl, die Gesellschaft schreibe dir vor, als Frau hintenanstehen und den Männern den Vortritt überlassen zu müssen?

Meine Mutter war schon immer sehr feministisch und sagte mir immer, ich solle mich wehren, mich im Unterricht melden, zeigen, was ich kann. Deshalb kann ich nicht behaupten, dass dies bei mir der Fall war. Es ist aber tatsächlich oft so, dass beispielsweise in einer Klasse die Mädchen ruhiger sind als die Jungen, obwohl Jungen kaum stärker sind als Mädchen. Das ist für mich auch ein Hinweis darauf, dass dieses Verhalten anerzogen sein könnte. Für mich war dies nie ein Hindernis, da ich schon als Kind lernte, meine Position zu vertreten. Ich glaube aber, dass es noch sehr viele Hürden für junge Frauen gibt, die man nicht mit einem neuen Gesetz verschwinden lassen kann.

Wie du vorhin sagtest, ist deine ganze Familie politisch aktiv. Dein Vater ist bei der CVP tätig. Ist es denn für das eigene politische Interesse eher förderlich, wenn der eigene Vater in der Politik ist?

Tatsächlich war ich sogar schon vor meinem Vater politisch aktiv. Auch mein Grossvater war in der Kommunalpolitik tätig, deshalb war die Politik auch für meinen Vater schon immer eine Option. Ich war jedoch die Erste, die sich in der Politik wirklich engagierte. Andererseits war mein Vater vor mir im Einwohnerrat, es war also eher ein Miteinander. Förderlich daran war aber sicherlich, dass die Politik bei uns schon immer ein Thema war, denn wir waren seit eh und je der Meinung, dass die Welt, so wie sie ist, nicht gut ist.

Deine Schwester ist auch bei der Juso?

Ja, genau. Sie ist wie ich seit jeher links. Sie ist zudem im Einwohnerrat von Untersiggenthal, was für sie momentan genau das ist, was sie sich wünscht.

Ich bin zwar auch im Einwohnerrat tätig, jedoch bin ich auch noch internationale Sekretärin in der Geschäftsleitung der Juso. Somit bin ich politisch auf nationaler Ebene tätig, was ich noch etwas spannender finde.

Wie ist es bei euch zu Hause, wenn ihr über ein Thema diskutiert? Gewinnt die oder der Lauteste?

Wie es sich für eine typisch kroatische Familie gehört, sind wir ziemlich laut (lacht). Wir streiten uns nicht, aber es gibt sehr hitzige Diskussionen. Am Schluss gewinnt niemand, aber wir teilen uns unsere Meinungen über ein Thema mit. Manchmal findet man Kompromisse, manchmal gerät man aneinander. Eines der prägendsten Themen war das Gendern. Meine Mutter und ich waren von Anfang an konsequent dafür, mein Bruder und mein Vater waren nicht ganz davon überzeugt. Mittlerweile sind es aber genau die beiden, die andere Leute korrigieren und sogar noch während eines Streits gendern.

Wie ist es, eine Frau in der Schweizer Politik zu sein?

Es kann ziemlich schwierig sein. Deshalb bin ich froh bin, bei der Juso zu sein. Einerseits bin ich noch jung, was nicht immer ein Nachteil sein muss. Andererseits bin ich eine Frau. Es gibt typische Frauen- und Männerthemen. Und typische Männerthemen traut man Frauen kaum zu; wenn ich mich beispielsweise zu einem Thema aus der Wirtschaftspolitik äussere, wird mir die Expertise in diesem Gebiet kaum zugetraut, obwohl ich schon seit 2014 politisch aktiv bin.

Grossartig finde ich, dass es bei der Juso einen Frauenraum gibt, wo wir über alles reden können. Das hilft vor allem, wenn man sieht, wie Leser*innen in manchen Internet-Zeitungen sexistische Kommentare hinterlassen. So findet man immer Unterstützung, wenn es darum geht, einen Gegenkommentar zu schreiben. Natürlich unterstützen wir uns auch sonst gegenseitig, es ist immer gut, ein solches Netzwerk zur Seite zu haben.

Was denkst du über die Stellung der Frau in der Schweiz? Haben wir mittlerweile die gleichen Rechte wie Männer, oder ist das noch immer Zukunftsmusik?

Das ist noch Zukunftsmusik. Seit ungefähr 40 Jahren ist der Gleichstellungs-Artikel in der Verfassung verankert, trotzdem sind wir von der Gleichstellung noch weit entfernt. Ganz im Gegenteil, der Unterschied liegt insgesamt bei 19%, in der Privatwirtschaft ist die Zahl sogar noch höher. Die ganze Sache mit unbezahlter Care-Arbeit, Kindererziehung, Pflege von Grosseltern und Eltern – alles wird vorwiegend noch von Frauen geleistet. Nicht alle können sich die Spitex leisten, an Kindertagesstätten mangelt es sowieso. Würde man alle Frauen, die solche unbezahlte Arbeit leisten, entlöhnen, dann müssten dafür ungefähr 240 Milliarden Franken ausgezahlt werden – das ist mehr, als Bund und Kantone zusammen ausgeben! So viel Arbeit leisten vorwiegend Frauen aus den unterschiedlichsten Schichten. Natürlich gibt es auch viele Männer, welche unbezahlte Care-Arbeit verrichten, aus strukturellen Gründen wird diese Arbeit aber immer noch mehrheitlich von Frauen ausgeübt.

Gleichzeitig ist es noch meistens so, dass der Mann Voll- und die Frau Teilzeit arbeitet, wenn Kinder im Spiel sind. Wenn man sich trennt, dann hat die Frau weniger in der Kasse. Dies führt automatisch in die Altersarmut, und diese ist in der Schweiz weiblich! Das ist leider ein Problem, welches auch durch AHV-Reformen nicht einfach zu lösen ist.

Welchen Stellenwert hat die schweizerische Frau im europäischen Vergleich nach deiner Meinung?

Es gibt kein Land der Welt, in welchem echte Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau herrscht. Es kann schon verschiedene Ausformulierungen und verschiedene Mittel geben, aber all die Menschen aus Deutschland und Österreich, mit denen ich sonst noch im Kontakt bin, haben ähnliche gesellschaftliche Strukturen, kämpfen gegen die gleichen Dinge. Darüber hinaus haben osteuropäische Länder noch weitere Probleme, wie Abtreibungsgesetze und eine diskriminierte LGTB-Gemeinschaft. Aber nur, weil andere Länder noch weniger Gleichberechtigung haben, heisst das nicht, dass wir zufrieden sein können. Wir kämpfen alle zusammen, auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Mitteln.

Wie schaffst du es, die richtige Balance zwischen Politik, Studium und Privatleben zu finden?

Ich muss gestehen, dass es mir selten gelingt, die richtige Balance zu finden. Ich mache wahrscheinlich zu viel Politik und habe zu wenig Privatleben. Das bedeutet nicht, dass ich das Gefühl habe, meine Jugend zu verpassen. Im Gegenteil, auch Politik hat sehr viel mit Austausch unter Gleichaltrigen zu tun. Ich versuche schon, realistische Zeitpläne zu gestalten, aber es stimmt, dass ich wenig Schlaf bekomme (lacht).

Was waren deine bisher grössten Erfolge in der Politik?

Was ich sehr gern mache, sind Abstimmungskampagnen. Bei der Durchsetzungsinitiative der SVP führte ich eine der fünf Gegenkampagnen, das fand ich äusserst spannend. Man kann das vielleicht nicht als Erfolg betrachten, aber ich finde es auch sehr wichtig, dass man einige (z.B. feministische) Themen immer wieder aufs Parkett bringt. Nur wenn man darauf beharrt, können gewisse Probleme langfristig gelöst werden.

Grundsätzlich ist es aber schwierig, die Frage nach persönlichen Erfolgen zu beantworten, da Politik immer auch Teamarbeit bedeutet. Man bearbeitet eigentlich immer nur einen kleinen Teilaspekt eines riesigen Konstrukts, es hat also immer auch etwas Kollektives. Ich kann beispielsweise sagen, dass ich beim Frauenstreik mitgearbeitet habe, und das ist ein politischer Erfolg – aber ich kann nicht sagen, dass das mein persönlicher Erfolg ist.

Wie sieht für dich die Schweiz der Zukunft aus?

Das grösste Problem unserer Zeit ist die CO2-Krise, das müssen wir unbedingt lösen. Wenn wir jetzt nichts unternehmen, endet das Ganze in einer Katastrophe. Auf feministischer Ebene müssen noch viel mehr Regelungen realisiert werden. Ich bin auch für die Frauenquote; nicht, weil ich finde, dass es nur mit einer Frauenquote gut funktioniert, sondern weil es momentan nicht anders geht. Es muss allen klar werden, dass ein gewisser Prozentsatz von Frauen in höheren Positionen normal sein sollte. Ebenso möchte ich eine Altersvorsorge, die für alle gerecht ist und in die auch unbezahlte Care-Arbeit einbezogen wird. Auch beim Blick auf die Pensionskassen sollte es kein grosses Machtgefälle mehr geben. Idealerweise hätte man immer ein Umlageverfahren, so dass die AHV auf alle Säulen ausweitet werden kann.

In der Schweiz sollte man auch auf fremdenfeindliches Verhalten aufmerksam machen. Diesem Thema wird leider zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Es sollte mehr Untersuchungen zu diesem ernsten Thema geben. Wir alle haben Vorurteile, dessen müssen wir uns bewusst werden. Wir brauchen also gesetzliche Grundlagen für den Umgang mit rassistischer Gewalt und mit Gewalt gegenüber Frauen oder «queeren» Menschen. Das Sexualstrafrecht wäre eine davon.

Was würdest du anderen jungen Menschen raten, die einen politischen Weg einschlagen wollen?

Man darf auf keinen Fall Angst davor haben, dass man zu wenig weiss. Anfangs wusste ich nur, dass ich feministisch und links bin – nicht viel mehr. Das genügte mir aber, um zu einer Versammlung zu gehen und einfach mal zuzuhören. Man sollte sich sicherlich zuerst informieren, wo und zu welchem Thema Versammlungen stattfinden und dann einfach teilnehmen und zuhören. Der erste Schritt ist immer der schwierigste, alles andere danach ist einfach. Man soll sich aber nicht gezwungen fühlen, zu jeder Versammlung zu gehen.

Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss setzte als erste weibliche Bundesrätin mit ihrem Einzug ins Bundeshaus für alle Schweizer*innen einen gewaltigen Meilenstein (20 Jahre nach dem Gleichstellungsgesetz!). Bist du damit zufrieden, oder gibt es für die Frauenquote in der schweizerischen Politik noch Verbesserungspotenzial?

Ich sehe auf jeden Fall Verbesserungspotenzial. Einzig der Kanton Neuenburg hat eine Frauenmehrheit im kantonalen Parlament, und die Stadt Bern im Stadtparlament. Insgesamt hatten wir bisher nur neun Bundesrätinnen. Das genügt nicht, denn dadurch wird die Realität nicht abgebildet. Wir haben auch kaum schwarze oder queere Menschen im Parlament. So lang sich das nicht ändert, werden wir nie die Politik haben, die wir als Bevölkerung verdienen. Ich finde eine 50%-Quote sehr wichtig, aber auch wenn wir diese Quote jemals erreichen, wird die Diskussion nicht aufhören. Es muss viel mehr passieren! Ich werde erst dann zufrieden sein, wenn das Leben für alle gut ist.

Quelle: Libra 50

Interview, Übersetzung: Marina Matić