Mitte des 19. Jahrhunderts waren alle Kontinente und Meere entdeckt, die meisten grossen Herausforderungen gemeistert. Und so wandten sich als erste, Besucher aus England den Alpen zu. Auf der Suche nach Neuem mitten im alten Europa. So wie Edward Whymper, der 1865 als erster das Matterhorn bestieg und dessen Erfolg nur eine Stunde später mit einer Tragödie endete. Vier von sieben Mitgliedern seiner Seilschaft stürzten beim Abstieg in den Tod. Die Beachtung in den Medien war riesig. Queen Victoria wollte das Bergsteigen gar verbieten, damit die Blüte der englischen Aristokratie ihr Leben nicht sinnlos in den Bergen verliert. Doch schon damals galt „no risk, no fun“ und was folgte, war eine wahre Alpeneuphorie.
Die einen suchten das Abenteuer, andere die Reinheit der Natur. Sie fanden Interlaken, den Giessbachfall über dem Brienzersee, die Aareschlucht und schliesslich das Berner Oberland mit dem Trio Eiger, Mönch und Jungfrau. Der Reichenbachfall bei Meiringen gelangte dank des Schriftstellers Sir Arthur Conan Doyle zu Weltruhm. Er liess seine Romanfigur Sherlock Holmes auf der Aussichtsplattform über dem 120 Meter hohen Wasserfall den eigenen Tod inszenieren.
Der Fremdenverkehr wurde zum wirtschaftlichen Faktor in einer an sich armen Region, die hauptsächlich von der Landwirtschaft lebte. Die ersten Hotels wurden gebaut, um die Gäste zu beherbergen. So manche Hotelier Dynastie wurde damals begründet. Aber die Anreise war beschwerlich und wer hoch hinaus wollte, musste sich anstrengen und trittsicher sein. Und so folgte der Nachfrage das Angebot. Man begann es den Gästen bequemer zu machen, damit möglichst viele an der Eroberung der Berge teilhaben konnten: 1879 transportierte die Giessbachbahn, die erste Standseilbahn Europas, die illustren Gäste zum Grandhotel Giessbach. Zehn Jahre später fuhr die Berner Oberland-Bahn von Interlaken nach Lauterbrunnen und Grindelwald. 1893 schliesslich ging die Fahrt bis zur Wengernalp, an den Fuss des gewaltigen Bergmassivs.
Das ehrgeizigste Vorhaben war aber der Bau einer Bahn auf das Jungfraujoch. Diese Idee kam dem eisenbahnverrückten Zürcher Unternehmer Adolf Guyer-Zeller. Ein wahnsinniges Unterfangen, bei dem ihn niemand richtig unterstützen wollte. Aber Guyer-Zeller blieb unnachgiebig. Die Konzession für den Bau bekam er problemlos, doch die Herausforderungen, die sich daraus ergaben, hatte er schwer unterschätzt: würden Menschen auf fast 4000 Metern atmen, und auch arbeiten können? Aus welchem Gestein bestand der Berg, durch den die Tunnels getrieben werden mussten? Wer sollte das alles bezahlen und vor allem, würde sich das alles auch auszahlen?

Wie einst Alfred Escher für seine Bahnprojekte gründete auch Guyer-Zeller eine eigene Bank zur Finanzierung seines Vorhabens. Es war das Zeitalter der Industrialisierung, eine Zeit des Aufbruchs. Der Glaube an die Technik war grenzenlos. Der Ingenieur Gustave Eiffel hatte es 1889 mit seinem Turm in Paris vorgemacht: alles war möglich zu dieser Zeit für den, der wagte. Im Sommer 1896 machten sich die ersten Arbeiter an die Arbeit. Die meisten von ihnen waren Italiener, jung, kräftig und mausarm. Mit Pickel, Schaufel, später mit Dynamit und einfachsten Werkzeugen, gruben und sprengten sie sich Meter für Meter den Berg hoch. Die Arbeitsbedingungen waren hart, der Lohn gering und die Einheimischen hielten sich von den jungen Arbeitern fern, mistrauten ihnen. Es kam zu tödlichen Unfällen. Man wehrte sich mehrmals mit Streiks, aber die Chefs reagierten hart und entliessen die Anführer. Sie konnten es sich erlauben, denn die Nachfrage nach Arbeit war zu dieser Zeit gross. Wer Arbeit hatte, konnte ein wenig Geld nach Hause schicken. Wer sich verletzte und nicht mehr weiterarbeiten konnte, musste nach Hause, ohne jegliche soziale Absicherung versteht sich. Gezeichnet vom Berg, für das ganze Leben.
Als 1899 Guyer-Zeller überraschend starb, schien das Projekt am Ende, aber seine Erben machten weiter. War eine Etappe vollendet, wurde sie sogleich kommerziell befahren, während die Mineure, die Arbeiter und Ingenieure weitergruben, immer weiter. Am 1. August 1912 war es geschafft: Mitglieder des Bundesrates eröffneten die Station Jungfraujoch auf 3454 Meter über Meer mit einem Festakt. Der Bau hat, statt der budgetierten vier Jahre, ganze 16 gedauert; die Baukosten waren doppelt so hoch wie einst voranschlagt. Aber es hatte sich gelohnt. Der Bahnhof ist der höchste Europas und eine Sensation. Die Touristen kamen aus England, aus Deutschland, aus Amerika. Zwei Jahre später bricht der Erste Weltkrieg aus und die Fremden blieben weg.
Erst Mitte der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts, kam der Tourismus endlich in Schwung. Nach den Entbehrungen der Kriegsjahre, wollten die Menschen sich etwas gönnen. Mit dem Wohlstand, begannen auch die Massen zu reisen. Im Rekordjahr 2011 standen 765 000 Menschen auf dem „Top of Europe“ und bestaunten die Sicht auf die umliegenden Berggipfel und den Aletschgletscher. Die Engländer und ihre Aristokraten wurden längst abgelöst von Besuchern aus Japan, Indien, Russland und China. Der wachsende Wohlstand in den Ländern Asiens birgt ein enormes Wachstumspotenzial für den Schweizer Tourismus. Ein Besuch auf dem Jungfraujoch gehört zum Pflichtprogram. Das Marketing der Jungfraubahnen hat ganze Arbeit geleistet, diesen Sommer war der Berg an 40 Tagen ausgebucht.
All dies dank einer Vision, herausragender Ingenieurskunst, einer tüchtigen Portion Geschäftssinn und Sturheit. Man könnte sagen, die Jungfraubahn ist das Resultat typischer Schweizer Tugenden.
Quellen:
VIA: Heft 05/2012, „Top of Switzerland – ins Herz der Alpen“ von Gaston Haas; www.myswitzerland.com
Text: Gloria Sartori Saadi
Übersetzung: Danjela Dobrić Stanović