Ist es den Preis wert?
Zur Selbstbestimmungs-, sprich Kündigungsinitiative der Schweizerischen Volkspartei im nächsten Herbst
Wegen der Covid-19-Pandemie ist in Europa die Personenfreizügigkeit aus gesundheitspolitischen Gründen vorübergehend eingeschränkt. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass sich nach dem Abflauen des Virus die Reise- und Niederlassungs-Normalität wieder einstellen wird. Noch bis in diesem Winter erstaunte die Unbedarftheit der alten EU-Länder gegenüber gewissen Verhaltensweisen neuer EU-Länder in Mittelosteuropa manchen Beobachter, besonders in Kombination mit der Sturheit der Brüsseler Bürokraten bezüglich der «heiligen Kuh» Personenfreizügigkeit! Sorgte diese Freizügigkeit früher für Frieden, sät sie heute – nicht erst seit dem Coronavirus – Streit, in Europa wie in der Schweiz. Und: Schweizer und Kroaten stecken mittendrin. Schweizer, weil sie bei der Zuwanderung in ihr Land immer mehr zögern; Kroaten, weil ihr Land wegen der Abwanderung demografisch ausblutet.
Wohl im nächsten Herbst soll die von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) so genannte «Selbstbestimmungsinitiative» vor das Stimmvolk kommen. Von ihren Gegnern auch Begrenzungs- oder Kündigungsinitiative genannt, will sie die Zuwanderung von Ausländern «eigenständig» regeln – also ohne EU, und somit ohne Personenfreizügigkeit. Damit setzt die Schweiz ihre gesamten Bilateralen Verträge mit der EU aufs Spiel, wirtschaftlich wohl ein weiteres Desaster nach den Pandemie-Problemen. Doch die SVP fokussiert auf die Zuwanderungsbefürchtungen, auf eine 10-Millionen-Schweiz. Kroatiens Regierungspartei wiederum befürchtet, dass die Abwanderung die Wirtschaft und die Lebensbasis des Landes untergräbt. In Österreich fallen die analog zur Schweiz eingeführten Beschränkungen zur Personenfreizügigkeit bereits Ende Juli 2020 weg, also werden dorthin noch mehr Kroaten auswandern. Kroatien wird zunehmend Mühe haben, sein Tourismuspotenzial effektiv auszunützen, weil sich immer weniger Leute finden, die man aufbieten kann – trotz Arbeitslosigkeit. In der Bauindustrie und im Handel sieht es ähnlich aus.
Das Dilemma, also die gute und schlechte Seite der Personenfreizügigkeit, zeigt sich auch für die in der Schweiz stimmberechtigten Kroaten: Wenn sie Konkurrenz am Arbeitsplatz befürchten oder unter «Dichtestress» leiden, stimmen auch sie eher für die Beschränkungen, die die SVP-Initiative fordert. Unschön: Sie verweigern damit ihren Mit-Kroaten die Rechte, die sie sich selbst wünschten oder hatten, als sie hierher kamen. Stimmen sie dagegen, entleert sich zwar ihre alte Heimat noch stärker, aber wenigstens riskiert die Schweizer Wirtschaft deswegen nach dem Corona kein weiteres, selbstverschuldetes Debakel. (Zuviel) Personenfreizügigkeit – produziert sie lauter Verlierer?
Nicht ganz! Mitte Februar machte die Story eines rumänischen Roma-Kinderhändlerrings, dessen Täter freigesprochen wurden, Schlagzeilen. Der Ring hatte – dank Personenfreizügigkeit – Tausende von Roma-Kindern in andere EU-Länder gebracht, zum Stehlen und Betteln, vor allem nach Grossbritannien (Quelle: NZZ vom 21. Februar 2020). Ein pensionierter (!) Polizist aus London leitete die Ermittlungen. In London sei eine 13-jährige Roma mehr als zehn Mal unter verschiedenen Namen und Geburtsdaten verhaftet worden. Bereits 3 Monate nach dem EU-Beitritt Rumäniens waren die durch rumänische Romas in Grossbritannien verübten Straftaten um das Achtfache gestiegen. Weshalb die Romas Grossbritannien bevorzugen? Wegen des grosszügigen Sozialsystems, so der Londoner Polizist. Sozialhilfe-Schecks lassen sich dort mit gefälschten Dokumenten einkassieren.
Definition der Personenfreizügigkeit
Personenfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit gelten als Unterarten der Freizügigkeit. Die erstere bedeutet «freien Personenverkehr». Damit ist die Freiheit gemeint, in einem anderen als dem Heimatland zu wohnen und zu arbeiten.
In Grossbritannien waren zwar rund 100 Personen dieses Rings verurteilt worden, doch in Rumänien kamen dann alle 26 Drahtzieher frei! Somit ist klar: Dank der von Brüssel erzwungenen Extremform von Personenfreizügigkeit konnten die Rumänen bisher ihr Roma-Problem in die alten EU-Länder «exportieren». Und dann wundert man sich im Rest der EU über den Brexit! Die Personenfreizügigkeit war nicht für wirtschaftlich und zivilgesellschaftlich derart weit auseinander liegende Länder wie Rumänien und Grossbritannien geschaffen worden, sondern als Friedensprojekt für das einst zerstückelte und zerstörte Europa. Seit einiger Zeit, schon vor der Corona-Pandemie, sorgt sie statt für Frieden für Streit: Als rotes Tuch dient sie Populisten und «Patrioten» dazu, die EU zu zerstören. Eine engere Auslegung des Begriffs – zum Beispiel Personenfreizügigkeit nur bei bestehendem Arbeitsvertrag – war für das nicht kompromissbereite Brüssel bisher keine Option. Doch dank Brexit wird nun genau das von Grossbritannien eingeführt: Die Tausenden von Roma-Kindern wurden wohl straffrei aus London in die nächsten westlichen EU-Länder «weiterverschoben», gut qualifizierte Rumänen hingegen werden es in London schwieriger finden, einen Job zu bekommen!
Ausgesuchte Kroaten erhielten bisher auch in der Schweiz einen Job – sofern sie dem Arbeitsmarkt entsprachen. Aber was läuft politisch rund um die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf alle Kroaten? Diese gilt in der Schweiz zwar seit 2017 auch für Kroatien, de facto ist sie aber wegen der Übergangsphase und Beschränkungen noch nicht in Kraft. Damals hatte auch das Parlament die SVP-Masseneinwanderungsinitiative derart relativierend umgesetzt, dass seither die darüber verärgerte SVP die Kündigungsinitiative nachschob, über die wohl im Herbst abgestimmt werden wird. Sollte sie abgelehnt werden, kommt die Personenfreizügigkeit für Kroatien im Jahr 2021. Wird sie jedoch angenommen, dürfte es vorher noch zum Streit kommen, ob sich die Freizügigkeits-Beschränkungen nur auf zukünftige oder auch auf bereits bestehende Regelungen (wie diejenige mit Kroatien) auswirken. Mit dem dabei zu erwartenden Wegfall der bilateralen Verträge dürfte aber die Personenfreizügigkeit an sich wegfallen. Eine Neuauflage eines offiziellen Schweizer Saisonnierstatuts à la 70er-Jahre würde in Brüssel als Affront erachtet werden. Also wäre der Weg frei für eine Zunahme der Schwarzarbeit – so wie bei den Afrikanern in Süditalien: Hungerlöhne ohne Arbeitsvertrag und ohne Versicherung. Zwar nicht EU-konform – aber Brüssel rührt sich nicht, da Schwarzarbeit offiziell gar nicht existiert… Und falls die Schweizer Wirtschaft ins Stocken gerät, fällt der Job einfach weg.
Kroaten-Exodus
Unter den EU-Ländern figuriert Kroatien als jenes mit der höchsten Rate an arbeitsfähiger Bevölkerung, die im EU-Ausland lebt (Schweiz also nicht inbegriffen). Während der EU-Durchschnitt 3,8% beträgt, sind es in Kroatien 14%. Offiziell (!) sind dies 230‘000 Kroaten. In Wirklichkeit sind es aber viel mehr, da sich zahlreiche Ausgewanderte in der Heimat nicht abmelden. In der Schweiz leben offiziell nur rund 30‘000 Kroaten, denn die Zahl der Eingebürgerten, die aus der Ausländerstatistik fallen, steigt. Netto verdient man in Kroatien knapp 900 Euro pro Monat, in Österreich über 2000 Euro, in der Schweiz mindestens das Doppelte. (Quelle: Kurier, 3. Februar 2020). Auswanderungsgründe sind aber auch fehlende Perspektiven und die Korruption im Land.
Meine Meinung: Die Personenfreizügigkeit ist und bleibt eine Grundvoraussetzung für Frieden, Wohlstand und Wachstum in ganz Europa, egal ob gerade Rezession oder Hochkonjunktur herrscht. Aber die extreme Brüsseler Interpretation der Personenfreizügigkeit ist übertrieben, sie wird damit zur Steilvorlage für Populisten und Nationalisten, die Europäische Union insgesamt zu untergraben. Die Pandemie hilft ihnen dabei leider noch. Stimmberechtigte Kroaten werden im Herbst die einzigartige Möglichkeit haben, ihre Stimme in der Schweiz abzugeben und sich gleichzeitig für ihre alte Heimat einzusetzen. Noch präsidiert Kroatien den EU-Ministerrat und hat dadurch in Brüssel eine gewichtige Stimme. Und vielleicht wird die Pandemie bis dann auch Brüssel etwas von der kompromisslosen Position abrücken lassen.
Erweiterungsbeitrag: Kohäsion statt Migration
Auch der zweite Kohäsionsbeitrag der Schweiz will mit Schweizer Expertise die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten verringern und zur besseren Bewältigung der Migration sprich Eindämmung der Auswanderung in den mittelosteuropäischen EU-Staaten beitragen. Es handelt sich um einen Betrag von 1,3 Mrd. Franken, über 10 Jahre. Kroatien erhielt bisher (bis 2024) 42,7 Mio. Fr. Neu sind 45,7 Mio. vorgesehen (Quelle: Die Volkswirtschaft). Die Schweiz sieht dies als ein Zeichen ihrer Solidariät; die EU hingegen betrachtet den Beitrag als Bedingung für den Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt. Das Problem dieses Beitrags liegt darin, dass das Parlament in Bern bisher glaubte, ihn als Druckmittel gegenüber Brüssel einsetzen zu können. So wurde ein Link zur Schweizer Börsenregulierung konstruiert, die Brüssel nicht anerkennen wollte. Das Schweizer Parlament sagte zwar Ja zum Beitrag an sich, aber Anfang 2020 stand die Auszahlung noch aus. Nur: Der Schweizer Beitrag macht nicht einmal 1% der Summe von 410 Mrd. Fr. aus, die von der EU selbst in die Kohäsionsbemühungen gesteckt wird.