Mit der vollständigen Öffnung des Schweizer Marktes für Arbeitskräfte aus Kroatien ab dem 1. Januar 2022 stieg das Interesse der Kroaten, in diesem für hohen Lebensstandard und hohe Löhne bekannten Land, zu arbeiten, dramatisch an. Eine Stelle in der Schweiz zu finden ist jedoch keine einfache Aufgabe, besonders für Arbeitnehmer, die nicht aus der IT- oder Medizinbranche kommen. Die Aufgabe, einen Job zu finden, ist zwar nicht einfach; das heisst aber nicht, dass sie unlösbar ist.

Wir sprachen mit Claudia Scherrer Domingos, einer bekannten und anerkannten Schweizer Personalexpertin, über die Jobsuche in der Schweiz. In ihrer 20-jährigen Karriere war sie als Leiterin Human Resources und als Mitglied der Geschäftsleitung verschiedener internationaler Konzerne aus unterschiedlichen Branchen tätig. Sie war dazu bereit, ihre Erfahrungen, die auf Überprüfung und Analyse von über 25‘000 Biografien beruhen, mit den Lesern der Libra zu teilen.

  • Wie findet man einen Job in der Schweiz?

Wer in der Schweiz eine Stelle finden will, muss für den schweizerischen Arbeitsmarkt bereit sein. Das bedeutet, dass man sich in diesem Markt mit dem richtigen Ansatz sichtbar machen muss. Jeder muss wissen, wo und wie Stellenangebote zu finden sind. Und es ist notwendig, sich auf Vorstellungsgespräche und die Unterzeichnung von Arbeitsverträgen vorzubereiten.

  • Können Sie das etwas näher erläutern?

Ich vergleiche die Jobsuche immer mit dem Einsatz und der erfolgreichen Arbeit eines Spitzensportlers. Er muss trainieren, sich auf das Turnier vorbereiten und mental fit sein. Es gibt mehrere Wettbewerbsrunden, die er alle durchlaufen muss, weil er sonst nicht gewinnen kann. Wenn Sie sich um eine Stelle bewerben, müssen Sie sich bemerkbar machen und sich in diesem hart umkämpften und spezifischen Markt mit einem professionell verfassten Lebenslauf zeigen. Auch wenn Sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden, müssen Sie wissen, wie Sie sich richtig verhalten und wie Sie auf Fragen antworten. Wenn Sie zu diesen Schritte nicht bereit sind, verschwenden Sie nur Energie.

  • Sind die Ansätze bei der Stellensuche für Angestellte oder Arbeiter unterschiedlich?

Zunächst gilt für beide Kategorien eine ganz klare Regel: Man braucht einen klaren Fokus, jeder muss genau wissen, was er will. Wer lediglich die Einstellung hat «Ich suche irgendeinen Job», ist zum Scheitern verurteilt. Niemand wird ihn bemerken. Der nächste notwendige Schritt ist ein professionell erstellter Lebenslauf nach schweizerischen Standards, der die Persönlichkeit betont. Ein solcher Lebenslauf wird im Internet veröffentlicht, beispielsweise auf dem beruflichen, sozialen Netzwerk LinkedIn (ch.linkedin.com). Beide Kategorien von Arbeitnehmern, vor allem aber Fachkräfte, Experten oder Manager, müssen sich dort vernetzen (Networking), während von Arbeitssuchenden aus der Kategorie «Arbeiter» erwartet wird, dass sie persönlich an den gewünschten Ort kommen.

  • Können Sie uns Portale nennen, an denen Stellen angeboten werden?

Es gibt mehrere Internetplattformen. Zum Beispiel jobs.ch für Deutsch, dann jobup.ch für Französischsprachige, und indeed.com. Zudem gibt es in der Schweiz mehrere grosse Stellenvermittlungen wie Adecco, Manpower oder Randstad sowie eine grosse Anzahl kleiner, aber sehr guter Agenturen.

  • Der sogenannte «verdeckte Markt» wird oft erwähnt. Können Sie dazu noch etwas sagen?

Ich würde sagen, dass der verdeckte Arbeitsmarkt der wichtigste ist. Das sind Jobs, die nirgendwo ausgeschrieben werden. Zur Illustration die folgende Information: Das Internetportal Nau.ch berichtete über das «Jobwunder» in der Schweiz mit rund 232‘000 offenen Stellen im Januar dieses Jahres, während https://de.statista.com im gleichen Zeitraum von rund 58‘000 ausgeschriebenen offenen Stellen schreibt. Also befinden sich zwischen 70 und 80 Prozent der offenen Stellen auf dem verdeckten Arbeitsmarkt.

  • Wie komme ich zum verdeckten Stellenmarkt?

Durch Online- und Offline-Vernetzung, Versenden von Spontanbewerbungen und direkte Kontakte.

  • Haben Sie die Unterschiede zwischen der kroatischen und der schweizerischen Mentalität bemerkt? Wie könnten sich diese Unterschiede auf die Arbeitssuche in der Schweiz auswirken?

Leider kenne ich nicht genügend Kroaten, um über deren Mentalität sprechen zu können. Aber was die schweizerische Mentalität betrifft, muss ich darauf hinweisen, dass hohe Arbeitsmoral an erster Stelle steht. Wir sprechen von einem sehr traditionellen Land mit Schlüsselwerten wie Neutralität, Qualität, Bescheidenheit, Respekt vor der Zeit. Pünktlichkeit ist äusserst wichtig, da keine Zeit für irgendjemanden verschwendet werden soll. Technische Fähigkeiten werden vorausgesetzt, daher liegt der Fokus auf Soft Skills, Einstellung und Verhalten. Die Persönlichkeit macht den Unterschied.

  • Sie haben die traditionelle schweizerische Neutralität erwähnt. Welchen Zusammenhang gibt es da mit dem Verfassen von Bewerbungen und Lebensläufen?

Während Individuen sehr unterschiedlich sein können, mögen es die meisten von uns Schweizern nicht, wenn jemand prahlt. Wenn jemand in seinem Lebenslauf schreibt, dass er zu viele Stärken, Erfolge oder Kompetenzen hat, werden wir misstrauisch. Dann kommt eine neutrale Haltung im Sinne von «Schau mal, wir werden sehen …». Also sollten Lebenslauf, Motivationsschreiben und Unterlagen wirklich klar sein. Schlüsselworte und Schlüsselfähigkeiten sollten durch Fakten und Erfahrungen aus der Vergangenheit bestätigt werden.

  • Was ist, wenn jemand kein Deutsch oder eine der anderen drei Schweizer Amtssprachen spricht?

Deutsch- oder Französischkenntnisse verbessern die Beschäftigungschancen erheblich. Wenn sich ein Kandidat jedoch in einem frühen Sprachstadium befindet, bedeutet dies nicht, dass er oder sie disqualifiziert wird. Es ist viel wichtiger, zu zeigen, dass man bereit ist, eine Sprache zu lernen.

  • Sind Diplome oder Zertifikate wichtiger als tatsächliche Berufserfahrung?

Diplome, Zeugnisse und Zertifikate sind unvermeidlich, denn jeder hier in der Schweiz hat sie. Mit Ihrer Berufserfahrung bestätigen Sie zusätzlich die praktische Seite der erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten. Nur das Diplom oder nur Berufserfahrung genügen nicht. Neben einer Ausbildung ist Erfahrung sehr wichtig. Zum Beispiel wird ein Praktikum oder eine andere Berufserfahrung, beispielsweise in der Gastronomie, oder eine andere berufsrelevante Erfahrung sehr geschätzt. Menschen mit praktischer (Hands-On) Erfahrung werden geschätzt, weil wir es mögen, wenn jemand Felderfahrung hat.

  • Wie verhalte ich mich bei einem Vorstellungsgespräch?

Beschreiben Sie sich selbst, verkaufen Sie sich nicht. Hören Sie sich die Fragen genau an und beantworten Sie sie wahrheitsgemäss. Niemand muss ein Held sein und alles wissen. Erzählen Sie einfach von sich und Ihren Erfahrungen, mit Fokus auf positive Dinge. Wird nach Beispielen gefragt, ist es notwendig, reale und konkrete Beispiele aus der beruflichen Vergangenheit zu nennen. Die Energie sollte immer auf einem hohen, freundlichen und positiven Niveau sein. Aber all dies sollte selbstverständlich sein, und es darf nicht «geschauspielert» werden.

  • Was sollte bei der Stellensuche in der Schweiz unbedingt vermieden werden?

Die Einstellung «Wie konnte es die Schweiz bisher ohne mich aushalten?». Zu dieser Kategorie gehört auch Unhöflichkeit im Stil von Besserwisserei.

  • Ihre letzte Botschaft für Stellensuchende in der Schweiz?

Die Schweiz ist ein erstaunliches Land mit grossartigen Möglichkeiten. Manchmal ist es nicht leicht zu verstehen, weil es nicht so wirkt, als würden alle mit offener Tür warten. Aber sobald Sie das Vertrauen von Schweizern oder Schweizer Arbeitgebern gewonnen haben, werden Sie ein Leben voller unglaublicher Möglichkeiten haben.

Interview geführt von: Antonela Grill Zečević

Übersetzung: Ivanka Jerković

Fotos: privates Archiv

Quelle: Libra 51